Milan Kundera est mort


ZEIT: Milan Kundera: Vom Lachen und Vergessen

Der Schriftsteller Milan Kundera besaß ein tiefes Verständnis der menschlichen Existenz und ihrer Ambivalenzen. Zum Tod des großen tschechisch-französischen Romanciers

Von Ulrich Rüdenauer

12. Juli 2023, 14:08 Uhr

Milan Kundera in Paris, 1984. © Francois Lochon/​Gamma-Rapho/​Getty Images

Vom Lachen und Vergessen

In seinem Roman Die Unsterblichkeit aus dem Jahr 1990 stiftet Milan Kundera eine sehr unwahrscheinliche Freundschaft: Hemingway und Goethe treffen im Jenseits aufeinander, zwei Autoren, die man unter normalen philologischen Umständen eher selten in einem Satz zusammenzwingen oder in einem Atemzug nennen würde. Aber mit wem wollte Goethe wohl in der Ewigkeit seine Zeit verbringen, fragt sich der immer wieder ins Geschehen eingreifende Romanautor. Mit Herder etwa? Mit Hölderlin? Oder mit Bettina, deren Liebeswerben um Goethe ihr einen eigenen Weg zur Unsterblichkeit ebnen sollte? Da doch lieber Papa Hemingway. “Ich habe also nur aus aufrichtigster Liebe zu ihm jemanden an seine Seite geträumt, der ihn interessieren könnte”, heißt es im Roman, “und eben nicht diese Bande von bleichgesichtigen Romantikern erinnert, die gegen Ende seines Lebens von ganz Deutschland Besitz ergriff.

Nun ist Milan Kundera im Alter von 94 Jahren gestorben, und man fragt sich, wen man ihm gerne im Jenseits als Gesellschaft wünschen würde – einen jener Autoren, die er verehrt hat? François Rabelais, Miguel de Cervantes, Denis Diderot, Laurence Sterne oder Witold Gombrowicz? Hermann Broch, von dem Kundera einmal gesagt hat, dass er ihn über alles liebte? Oder vielleicht doch eher jemanden, den man nicht leicht mit seinem Werk in Verbindung bringen könnte – einen ganz unwahrscheinlichen Kandidaten wie John Steinbeck oder Ernst Jünger, der ja, wie Kundera selbst, ein stattliches Alter erreicht hat. Zu wünschen wäre ihm jedenfalls ein anregender Gesprächspartner, der seinen intellektuellen Leidenschaften gerecht werden kann.

Die begann er schon früh auszubilden, was bei seinem Elternhaus nicht ganz verwundern muss: Milan Kundera wurde am 1. April 1929 in eine bürgerliche, der künstlerischen Avantgarde zugeneigte Familie im tschechischen Brünn hineingeboren. Der Vater Ludvík Kundera war ein renommierter Pianist und Musikwissenschaftler, zudem Rektor der Musikhochschule Brünn. In einem Interview mit der New York Times erinnerte sich Kundera an die Hingabe seines Vaters an die moderne Musik – er verehrte Strawinsky, Bartók, Schönberg oder Janáček, für dessen Werk er sich sehr einsetzte. Kunderas älterer Cousin war der 2010 im Alter von 90 Jahren gestorbene Schriftsteller und Übersetzer Ludvík Kundera.

Als Kind erhielt Milan Kundera Klavier- und Kompositionsunterricht, früh begann er, sich mit Gedichten zu befassen. Er übersetzte aus dem Russischen, wagte sich an erste eigene lyrische Arbeiten. An der Prager Karls-Universität besuchte er Ende der 1940er-Jahre zunächst Kurse in Musik und Literatur, wechselte aber kurze Zeit später an die Filmfakultät der Akademie für Musik und Dramatik, wo er Regie und Drehbuch studierte.

Im Ausland war er Dissident

Es waren turbulente Zeiten, in denen Kundera aufwuchs: Nach dem Zweiten Weltkrieg verdingte er sich als Arbeiter, nutzte sein musikalisches Talent, um als Jazzpianist ein wenig Geld zu verdienen. Sein politisches Engagement brachte ihn bereits während des Studiums in Konflikt mit der Nomenklatura. Wegen “feindlichen Denkens und individualistischer Neigungen” wurde er aus der Partei ausgeschlossen, die Universität musste er daraufhin für eine Weile verlassen. Mit seinen frühen Gedichtbänden, die in den Fünfzigerjahren erschienen sind (und gegen deren Wiederveröffentlichung der Autor sich bis zuletzt vehement gestellt hat), eckte Kundera nicht an. Er war durchaus ein Befürworter des Kommunismus, wurde wieder in die Partei aufgenommen, lehrte nach seinem Studienabschluss als Dozent an der Filmhochschule, veröffentlichte literaturtheoretische Aufsätze und in den Sechzigerjahren Erzählungen, die dann einige Jahre später unter dem Titel Das Buch der lächerlichen Liebe veröffentlicht wurden und seinen Ruhm mitbegründen sollten.

Sein Bekanntheitsgrad wuchs schon zu Zeiten des Prager Frühlings. Kundera wurde, eher wider Willen, zu einem der intellektuellen Protagonisten dieses Aufbruchs, der in einem Desaster endete. Auch im Ausland galt er als Dissident. Sein Roman Der Scherz, im Jahr 1967 erschienen, hatte bereits klargemacht, wie Kundera die Widersprüche des Systems sah: dass er sich auf die Seite des Individuums stellte, das von einem dumpfen Kollektiv zerrieben wird. Seine beiden nachfolgenden Romane Das Leben ist anderswo und Abschiedswalzer sind Abrechnungen mit dem totalitären Regime und der eigenen Vergangenheit. Er hatte die Bücher bereits im Bewusstsein geschrieben, sie nicht mehr, zumindest nicht in der Tschechoslowakei, veröffentlichen zu können. Sie erschienen letzthin in Frankreich.

Frankreich – der Kultur dieses Landes hatte er sich immer nahe gefühlt – wurde für ihn nach dem endgültigen Ausschluss aus der Partei, dem Verlust seiner Arbeit, dem Publikationsverbot zur Rettungsinsel: Einem Ruf an die Universität Rennes folgte er 1975 bereitwillig, seine Frau Věra Hrabánková begleitete ihn. 1978 zog das Paar weiter nach Paris. Mit der Veröffentlichung des Romans Das Buch vom Lachen und Vergessen wurde eine Rückkehr unmöglich: Man entzog Kundera die tschechische Staatsbürgerschaft. Das Exil wurde zur dauerhaften Heimat und blieb es bis zuletzt. Seit 1981 lebte er in Paris als französischer Staatsbürger.

Heimat im Exil

Sieben Jahre nach seiner Ausbürgerung bekannte er in einem Gespräch mit Philip Roth freimütig seine Erleichterung, an diesem Ort gestrandet zu sein: “Ich habe Angst, Dir die Wahrheit zu sagen. Ein Mensch, der nicht leidet, wenn er nicht in seine Heimat zurückkehren darf, wird im Allgemeinen für unsensibel, wenn nicht für ‚entartet‘ gehalten. Trotzdem möchte ich Dir gestehen: die Jahre, die ich in Frankreich verbracht habe, waren die schönsten in meinem Leben.” Kundera fühlte sich befreit von der Politik, von ihrem allgegenwärtigen Einfluss, von endlosen stereotypen Diskussionen. In Ländern mit polizeistaatlicher Unterdrückung sei all dem nicht aus dem Weg zu gehen.

Beiseite aber wischte er die Politik freilich nicht, wenngleich er sie auf die freieste Weise verhandeln konnte. Das Buch vom Lachen und Vergessen zeigt das eindrücklich: ein Roman, der in einer virtuosen musikalischen Komposition und in verschiedenen Variationen Niederlagen und Verwerfungen durchspielt; die Handlung ist aufgesplittert, muss erst vom Leser zusammengesetzt werden. Schauplätze und Zeiten wechseln, und doch scheint alles Erzählte und Gedachte aufeinander bezogen, miteinander verbunden und zugleich voller Willkür.

Gerade die formale Freiheit, die in diesem Buch liegt, die episodenhafte Verknüpfung reflexiver und erzählerischer Passagen, scheint einen noch größeren Affront darzustellen als sein mit totalitären Mechanismen abrechnender Inhalt. Schon einzelne Sätze in diesem Roman hätten Kundera in der kommunistischen Tschechoslowakei zur Persona non grata machen können, etwa wenn er seinen Helden Mirek sagen lässt: “Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen.

Und so ein Satz könnte in allen Büchern Kunderas zu finden sein. Wo die Politik zur Vereinfachung tendiert, ist der Roman für Kundera ein vielschichtiges Instrument gewesen, das die verschiedensten Töne, Farben, Emotionen und Gedanken, das Ironie, Witz und Trauer produzieren kann, um gegen das Vergessen und die Macht der Ideologie anzukämpfen. Die Kompliziertheit der menschlichen Existenz sollte mithilfe der Sprache zum Vorschein kommen, nicht deren Verkümmerungsform, wie sie die Politik oder die Unterhaltungsmaschinerie zur leichteren Handhabung des Individuums anstrebte. Der Romancier war für Kundera ein Erforscher der Existenz. Hingegen sollte er kein Historiker oder Prophet sein. Beides hätte er anmaßend und deplatziert gefunden.

Von Brüchen und Gebrochenheiten

Dass dieses Programm des Romanciers eine große Suggestionskraft entfalten konnte, bewies Kunderas wohl bekanntestes Werk aus dem Jahr 1984: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, jene aufgeladene Geschichte des liebesdurstigen Chirurgen Tomas und der Kellnerin Teresa vor dem Hintergrund der Niederschlagung des Prager Frühlings. Wie in vielen seiner Bücher vermischen sich auch in diesem seine immer wieder leitmotivisch auftauchenden Themen – Verrat und Lust, Betrug und Verführung. Die Zeitläufte dringen ins Denken ein, und das Begehren muss sich immerzu befreien von den Ansprüchen einer anders gesinnten Welt, von der oktroyierten Parabelhaftigkeit des Lebens. Die Leichtigkeit des Seins ist unerträglich, die Absurdität unausweichlich.

Das Buch wurde zum Weltbestseller, der Titel zum geflügelten Wort, die Verfilmung mit Daniel Day-Lewis und Juliette Binoche förderte die Popularität des Autors nur noch mehr – was dem gar nicht sonderlich recht war. Kundera war schon früher der Auffassung gewesen, ein Romancier sollte nur sein Werk sprechen lassen, nun setzte er den Rückzug aus der Öffentlichkeit seit den späten Achtzigerjahren sehr konsequent in die Tat um. Interviews gab er selten und wenn, dann nur noch schriftlich, um Missverständnissen vorzubeugen. Zu oft hatte er seine Äußerungen als falsch wiedergegeben empfunden.

Den Romancier unterschied Kundera streng vom Schriftsteller: Zweiterer sei eine Figur, die sich einmischt; ersterer wolle gänzlich hinter seinem Werk verschwinden, am besten keine biografischen Spuren hinterlassen. Auftritte mied er deshalb ausnahmslos; den Usancen des literarischen Betriebs verweigerte er sich. “Ich stand nie unter dem Druck, etwas veröffentlichen zu müssen”, sagte er einmal. “Vom Rhythmus der Kulturindustrie will ich mich nicht beherrschen lassen. Ich werde immer meinen eigenen Rhythmus beibehalten, der in der Regel sehr langsam ist.”

Viele Interpreten haben im Werk Milan Kunderas eine Veränderung entdeckt, die tschechoslowakische von der französischen Phase geschieden. Kundera selbst beharrte darauf, dass es keine Brüche gebe. Vermutlich hat er nicht unrecht. Was wohl auch daran liegt, dass jeder seiner Romane von Brüchen durchzogen ist, vom Gebrochensein handelt und trotzdem mit aller sprachlichen Artistik eine Ganzheit behauptet: Die menschlichen Dramen, die Liebeshändel, das Verlorengehen spielen sich in der großen Geschichte ab, die auch die von Kundera selbst erfahrene war. Beides, das Politische und das Individuelle, wirkten aufeinander. einfach nur abhängen.

Die Sprache entfernte sich

Und wie in der Tradition des frühen europäischen Romans, auf die er sich berief, konnte dem nur gerecht werden, wer die Erzählform als Formenvielfalt betrachtete, das Epische und Essayistische miteinander in Schwingung brachte, den tiefen Ernst, die Melancholie und den Scherz ebenso wie die Absurdität zu ihrem Recht kommen ließ, das Lachen und Vergessen, das Erinnern und Weinen. Im Zweifel entschied sich Kundera eher für den Kitsch als für die politische Plattitüde; statt für die große Geste, für die kleine, die er wie kaum ein Zweiter entdecken und entschlüsseln konnte. Etwa in der ersten Szene des Romans Die Unsterblichkeit, in dem wir dem Autor, dem Voyeur, beim Erschaffen seiner Figur über die Schulter schauen:

“Ihre Hand schwang sich mit bezaubernder Leichtigkeit in die Höhe. Es war, als würfe sie ihrem Geliebten einen bunten Ball zu. Das Lächeln und die Geste waren, im Gegensatz zu Gesicht und Körper, voller eleganter Anmut. (…) Eine von der Zeit unabhängige Essenz ihrer Anmut hatte sich für einen Augenblick in einer Geste offenbart und mich geblendet. Ich war auf merkwürdige Weise gerührt. Und vor mir tauchte das Wort Agnes auf. Ich habe nie eine Frau mit diesem Namen gekannt.”

Einen frappierenden Wandel gab es aber in seinem Werk. Seit den Neunzigerjahren schrieb er seine Romane in der Sprache des zum endgültigen Zuhause gewordenen Exils, und dieser Sprachwechsel hatte durchaus Auswirkungen auf die ästhetische Ebene: Wo seine auf Tschechisch verfassten Romane ausgreifend sind, sich in verschiedenen Strängen verlieren, Reflexion und Erzählen nebeneinanderstellen, sind die französischen – beginnend mit Die Langsamkeit (1995) – nicht nur sehr viel schmaler, sondern auch konzentrierter. Man hat den Eindruck, die Reduktion sei dem Geist der neuen Sprache geschuldet, einer bewussten Ökonomisierung der Mittel. Auch mit der Sprache entfernte sich Kundera zusehends von seiner Vergangenheit, von seiner Herkunftswelt.

Nur kurze Schatten auf seinem Werk

Die holte ihn aber doch noch einmal ein. 2008 warf der Historiker Adam Hradilek vom Institut für das Studium totalitärer Regime in Prag Milan Kundera vor, dass er im Jahr 1950 einen damals fast gleichaltrigen Antikommunisten namens Miroslav Dvořáček bei der Polizei denunziert habe. Der junge Mann ist damals zu 22 Jahren Zwangsarbeit und Haft verurteilt worden. Kundera stritt die Vorwürfe ab, sprach von einem “Attentat”, das man auf ihn verüben wollte. Berühmte Kollegen wie J.M. Coetzee oder Orhan Pamuk sprangen ihm zur Seite. Tatsächlich konnten die Vorwürfe nie belegt werden. Ob die unter dem aufgetauchten Dokument geleistete Unterschrift tatsächlich jene Kunderas war oder von jemandem stammte, der sich seinerzeit seines Namens bedient hatte – das konnte nicht endgültig geklärt werden; viele Indizien aber deuteten darauf hin, dass Kundera tatsächlich selbst zum Opfer einer Rufmordkampagne geworden ist. Die Affäre warf für kurze Zeit einen Schatten auf sein Werk; aber spätestens in den Artikeln zu Kunderas 90. Geburtstag im Jahr 2019 war diese nur noch eine Randnotiz.

Was von diesem Autor bleibt, ist sein tiefes Verständnis der menschlichen Existenz und ihrer Ambivalenzen; es bleiben seine Ironie, seine ungemein verfeinerte Romankunst und damit verbunden: seine Unbedingtheit. Wer als Romancier keinen “dauerhaften ästhetischen Wert” anstrebe, schrieb Kundera, der solle das Schreiben ganz bleiben lassen. Verachtenswert sei ein durchschnittlicher Romancier, der “wissentlich vergängliche, gewöhnliche, konventionelle, also unnötige, also störende, also schädliche Bücher schreibt”. Der Roman, der keine bislang unbekannte Parzelle der Existenz entdecke, sei unmoralisch. Milan Kundera ist seinen eigenen strengen künstlerischen Imperativen gerecht geworden. Man sollte ihm fürs Jenseits also doch lieber Götter wie Shakespeare oder Kafka an die Seite träumen.